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Bernhard Krüsken
Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes
Foto: Breloer/DBV

Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Dieser altbekannte Spruch hat seit einigen Tagen ungeahnte dramatische Tragweite bekommen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat jahrzehntealte sicherheitspolitische und geostrategische Gewissheiten – und nach heutigem Stand Selbsttäuschungen – Europas pulverisiert. Der Weckruf trifft alle Politikfelder. Diese historische Zäsur, das Ende der Illusionen und die Konsequenzen daraus sind den zurückliegenden Tagen in Medien und Öffentlichkeit ausführlich analysiert und kommentiert worden. Die Ampelkoalition erlebt einen ungebremsten Aufprall in dieser neuen Realität – und wer die politische Historie und Programmatik der Akteure genauer ansieht, versteht möglicherweise, dass die Härte dieses Wirklichkeitskontaktes erst einmal etwas kopflos gemacht hat. Dennoch haben Europa und die Bundesregierung mittlerweile die Wende vollzogen und zu einer klaren Position und zu konzertierten Gegenmaßnahmen gefunden – spät, aber hoffentlich nicht zu spät.

Nicht die Zeit für schnelle Forderungen zu agrarpolitischen Fragen

Solange die Kampfhandlungen andauern und weiter eskalieren, muss Europa zusammenstehen und die Sorge um die Zivilbevölkerung und um die Ukraine muss oberste Priorität haben. Das ist nicht die Zeit für schnelle öffentliche Forderungen zu agrarpolitischen Fragen, die sich aus dem Kriegsgeschehen und seinen Folgen ableiten. Nach dieser Phase müssen wir aber zügig zu einer Grundsatzdebatte um Versorgungssicherheit und Stabilität kommen, die für die Sicherheits- und Energiepolitik bereits in vollem Gang ist und die um Landwirtschaft, Ernährung und sichere Lebensmittelversorgung zu ergänzen ist. Für unseren Sektor folgt aus dem Geschehen wesentlich mehr als „nur“ Turbulenzen auf den Energie-, Getreide- und Düngemittelmärkten. Versorgungssicherheit wird zur strategischen Aufgabe. Die bisherige Gewissheit, dass internationale Lieferketten verlässlich sind, hatte schon im Gefolge von Corona erhebliche Risse bekommen und ist nun ganz dahin. In diesen Tagen regiert an den Energie-, Rohstoff- und Getreidemärkten die Panik, weil es nicht mehr nur um hohe Preise, sondern um tatsächliche Lieferausfälle geht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich dies auch in der Lebensmittel-Lieferkette bemerkbar machen wird. Die Befürchtung, dass das Prinzip „hohe Preise ziehen Ware“ nicht mehr greifen könnte, scheint nicht mehr abwegig. Die Auswirkungen eines Ausfalls von Weizenlieferungen beispielsweise auf den Nahen Osten oder die Region Nordafrika haben in jedem Fall geostrategische Dimension.

Versorgungssicherheit als Teil einer strategischen europäischen Zukunftsaufgabe

Vor knapp einem Jahr hat der DBV ein Zukunftskonzept Landwirtschaft vorgestellt, welches unter anderem vorsieht, das Schutzgut Versorgungssicherheit im Grundgesetz zu verankern. Was Anfang 2021 noch stark darauf abzielte, hohe Erzeugungsstandards abzusichern, muss nun zur Sicherung der physischen Verfügbarkeit von Energie, Rohstoffen und Nahrungsmitteln angegangen werden und ist Teil einer strategischen europäischen Zukunftsaufgabe. Wann, wenn nicht jetzt? Natürlich reicht es nicht, etwas ins Grundgesetz zu schreiben. Die Prioritäten im politischen Tagesgeschäft müssen sich ändern. Wer sich auf die europäische oder heimische Erzeugung verlassen muss, darf diese nicht ausbremsen. Es drängt sich die Frage auf, ob ein Green Deal richtig gewichtet ist, der für Landwirtschaft und Ernährung auf Einschränkungen der Erzeugung, Stilllegungen und höhere Importe setzt. Die Farm-to-Fork-Agenda mit ihren eindimensionalen pauschalen Reduktionszielen für Düngung und Pflanzenschutz und ihren Lücken in Sachen Handelspolitik und Versorgungssicherheit passt nicht in diese neue Realität. Zusätzlich nimmt der politisch sträflich unterschätzte Faktor Inflation deutlich Fahrt auf. Bisher war die europäische Geldpolitik Haupttreiber, nun wirkt dieser Krieg wie ein Brandbeschleuniger. Dieses Gespenst geht auch wieder in Europa um und erinnert an die alte Einsicht, dass ohne ökonomische und soziale Nachhaltigkeit die ökologische Nachhaltigkeit es sehr schwer hat. Es bleibt abzuwarten, wie Verbraucher reagieren werden.

Wende der anderen Art für alte und neue Herausforderungen

Mit den neuen Rahmenbedingungen werden sich Märkte und Landwirtschaft nachhaltig verändern. Zukunftskommissionen, Kompetenznetzwerke, Koalitionspartner, die Bundesregierung und auch die Landwirtschaft selbst haben sich die Aufgabe gestellt, einen Transformationsprozess des Sektors voranzubringen, um dessen Zukunftsfähigkeit zu sichern. Die Herausforderungen Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und der wirtschaftliche Druck auf unsere Betriebe geben kein Pardon und müssen weiterhin bewältigt werden, aber seit dem Februar 2022 haben wir zusätzliche Aufgaben auf dem Tisch. Das Unwort von der „Agrarwende“ ist glücklicherweise seit der Zukunftskommission Landwirtschaft weitgehend von der agrarpolitischen Bühne verschwunden, aber nun brauchen wir tatsächlich eine Wende der anderen Art – und zwar in der Sicherheits-, Energie- Ernährungs- und auch in der Agrarpolitik. Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung sind nicht nur systemrelevant, sondern auch sicherheitspolitisch hochgradig bedeutsam. Das ist keine Absage an das Projekt „Transformationsprozess“, ganz im Gegenteil. Nur muss hier dringend nachjustiert werden.